Der VRR möchte seine Tarife massiv vereinfachen. Endlich! Es könnte der Aufbruch zur Verkehrswende in NRW sein. Wenn es denn ernst gemeint wäre. Aber selbst, wenn der VRR es nicht ernst meint: Nehmt es doch bitte ernst! Macht es! Billiger ist der Einstieg in eine zeitgemäße Verkehrspolitik nicht zu bekommen.
Seit Anfang 2010 ist der fahrscheinfreie Bus- und Bahnverkehr in den Wahlprogrammen der NRW-Piraten verankert. Vor zehn Jahren wurde die Idee noch auf breiter Ebene belächelt, doch seitdem haben nicht nur Piraten daran gearbeitet, dass aus dieser Utopie Wirklichkeit wird.
Mit Luxemburg führt ab März 2020 ein ganzes europäisches Land den fahrscheinfreien Nahverkehr ein. Großstädte wie Tallinn (seit 2013 für Einwohner/innen) und Kansas City, das den „free public transport“ der Tram gerade auf alle Verkehrsmittel ausweitet, machen damit bereits länger gute Erfahrungen.
Fahrscheinfrei-Versuche in Deutschland
In Deutschland sind die Städte Pfaffenhofen (seit 2018) und Monheim am Rhein (ab April 2020 für Einwohner/innen) an Tübingen („TüBus umsonst“) vorbeigezogen, die die Idee schon länger hatten aber nie vollständig umsetzten. Inzwischen führen viele Kreise und Städte zumindest zaghafte Versuche durch: Ein Tag, eine Woche, die Adventswochenenden – fahrscheinfreie ÖPNV-Schnupper-Tage mit und ohne Einschränkungen für den PKW-Verkehr. Auch der VRR macht ein bisschen mit: Im Jahr 2020 dürfen alle an ihrem eigenen Geburtstag kostenlos Bus und Bahn fahren. Ein Lichtbildausweis mit Geburtstagsdatum gilt als Ticket.
Viele Kreis- und Stadträte, Verkehrsbetriebe und Bürgermeister/innen können sich dem Reiz und dem Marketing-Effekt des fahrscheinfreien Fahrens nicht entziehen. Trotzdem besagt die Leitlinie der Mainstream-Politik weiterhin, dass etwas, das nichts kostet, nicht wertgeschätzt werden könne und dass ein komplett fahrscheinfreier Nahverkehr unbezahlbar wäre. Außerdem wären nicht genügend Kapazitäten da, falls es wirklich mehr Fahrgäste gäbe. Erstmal müsse der ÖPNV ausgebaut werden. Vor allem auf dem Land.
Fazit
Es werden lieber weiterhin enorme Summen für die PKW-Infrastruktur ausgegeben, große Teile der Städte werden für Verkehrsflächen – kostenfrei und hoffentlich wertgeschätzt – reserviert. Der ÖPNV wird derweil nicht ausgebaut. Erst recht nicht auf dem Land. Dort fahren die Busse so selten, dass sie niemand nutzen will, also lohnt es nicht, sie häufiger fahren zu lassen.
Damit haben wir ein Problem. Denn NRW hat nicht nur einen besonders miesen ÖPNV – einen der schlechtesten, den man sich in einem so großen Ballungsraum vorstellen kann – sondern auch eine PKW-Infrastruktur, die trotz massiven Ausbaus im Berufsverkehr verstopft und nicht geeignet ist, die Menschen im Land glücklich zu machen.
Das Argument, dass wir nicht noch mehr Fahrgäste im ÖPNV-System gebrauchen können, weil wir die Kapazitäten nicht haben, ist also Banane. Matschige Banane. Wir müssen die Kapazitäten schaffen. Nicht irgendwann, wenn mal gerade Geld vom Straßenbau übrig ist, sondern jetzt und sofort. Mit einer ordentlichen Portion Druck. Nur damit können wir im Berufsverkehr die Verkehrsinfrastruktur soweit entlasten, dass NRW morgens wieder glücklicher wird. Die größte Herausforderung in NRW ist die Stadt Köln: Dort wird der Ausbau schwierig. Im Bereich des VRR jedoch ist mit einigen Jahren Anstrengung viel machbar.
Wenn wir uns einig sind, dass wir in NRW eigentlich doch mehr Fahrgäste für Bus und Bahn haben wollen, stellen wir uns die Frage, wie wir sie, vor allem die Berufspendler/innen, zum Umsteigen bewegen können. Bus und Bahn müssen attraktiver und bequemer werden: öfter fahren, direkter fahren, schneller etc. – d.h. der ÖPNV muss ausgebaut werden, was sowieso passieren muss, wenn mehr Fahrgäste kommen.
Der Tarifdschungel
Doch es gibt noch eine weitere Hürde, die vor allem verhindert, dass Pendler/innen Bus und Bahn überhaupt ausprobieren und zu Gelegenheitsfahrer/innen werden: Das Tarifsystem. Die ÖPNV-Tarifsysteme sind die größten Verhinderer einer NRW-Verkehrswende!
Der Preis spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Die Tarifsysteme sind vor allem zu kompliziert. Es gibt Menschen, die Angst haben, aus Versehen schwarz zu fahren – und das zu Recht. Vor der Fahrt zwischen Tarifzonen oder gar Tarifgebieten sollte man sich schon einige Zeit mit dem System beschäftigen. Ein abgeschlossenes Studium hilft dabei, aber nicht immer.
Und jedes Mal, wenn es Politiker/innen oder Verkehrsbetriebe augenscheinlich gut meinen und einen besonders attraktiven Tarif hinzufügen (Bärenticket, 9-Uhr-Ticket, eTarif, Sonderticket X, Y, Z), wird der ÖPNV nicht attraktiver, sondern nur noch komplizierter. Das ist Abschreckung! Kleinstaaterei, die verhindert, dass Menschen in NRW mit Bus und Bahn zur Arbeit fahren. In keiner europäischen Metropole fahren weniger Menschen mit dem ÖPNV, als in der größten Agglomeration Europas, dem Ruhrgebiet: VRR-Gebiet.
Das Wiener Modell
Das Tarifsystem muss also einfacher werden. Wien hat das 365-Euro-Ticket und viele Politiker/innen würden das gerne kopieren, ohne die Stadtkasse zu belasten. Manchmal – wie in Bonn das „Klimaticket“ – als _zusätzliches_ Ticket zum bestehenden Tarifsystem: mit möglichst komplizierten Regeln, wer es haben darf und wer nicht und mit beschränktem Geltungsraum. Anschließend wundern sich alle, dass es nicht funktioniert. Und das habe ich mir nicht ausgedacht. Das ist wirklich so passiert.
Begleitende Studien zeigen, dass das Wiener Modell nicht deshalb so erfolgreich ist, weil es billig ist, sondern, weil es einfach ist! Nebenbei spielt natürlich eine Rolle, dass der ÖPNV auch gut ausgebaut wurde. Besonders deutlich wurde das bei einer Studie in Innsbruck / Vorarlberg, wo ein landesweites 370-Euro-Ticket (ehemals 360-Euro-Ticket) existiert: Für die Mehrzahl der Nutzer/innen wurde das Fahren mit Bus und Bahn teurer – das Flatrate-Ticket lohnt sich für Gelegenheitsfahrten gar nicht. Doch es war so einfach, dass es dennoch gekauft wurde. Ein VRR-Abo mit dem gleichen Leistungsumfang kostet statt 365 Euro 2167,80 Euro – und dann spielt der Preis doch eine Rolle. 2167,80 Euro im Abo pro Jahr, gibt man nicht mal eben aus, wenn man den ÖPNV nur gelegentlich nutzen will.
In NRW so
Man kann übrigens statt 2167,80 Euro auch 2442,60 Euro für einmal VRR-Flat im Jahr ausgeben (ohne Abo). Oder nur 2004,84 Euro (Ticket 1000). Oder man nimmt zwölf 30-Tages-Tickets (nur Online) oder man ist berechtigt für das YoungTicket, das Bärenticket etc. Die VRR-Website hat 31 (!) Kästchen für verschiedene Tarife (ohne Sondertarife für einzelne Kommunen). Jedes Kästchen führt zu einer Tabelle mit oft 24 weiteren Tarifoptionen, weil es jeweils 6 Preisstufen gibt und bei den Zeitkarten jeweils Abo- und 9-Uhr-Varianten. Hat man einen der 31 Fahrkartentypen gewählt und sich für eine der 24 Detailoptionen entschieden, braucht man nur noch den Geltungsbereich aus den 75 Tarifzonen des Verbundraums zusammenbasteln und Bäääm, hat man sein Ticket. Der VRR hat eine Broschüre „Tickets und Preise“ für Gelegenheitsfahrer/innen. Die Broschüre hat 36 Seiten. Demnächst gibt es zur Vereinfachung noch einen eTarif: zusätzlich obendrauf.
Der gemeine NRWler hat sich ja daran gewöhnt – und nimmt das Auto. Was soll man machen? Bei so vielen Gremien, Räten und Entscheider/innen wird sich da nicht so schnell was ändern. Wir können nur hoffen, dass irgendwann die Ticketpreise an den Benzinpreis gekoppelt werden und sie nicht mehr so schnell steigen. Resignation.
Das Rhein-Ruhr-Modell
Und dann… Dann legt der VRR am Mittwoch plötzlich ein „Sofortprogramm Saubere Luft“ vor. Statt rund 500 Tarifen nur noch VIER! Total einfach. Und bezahlbar. Zwei Preisstufen. Einzelticket innerhalb einer Stadt oder eines Kreises: 2 Euro. Für den gesamten VRR-Raum: 4 Euro. Monatsticket 50 Euro für die Stadt oder 80 Euro verbundweit. Das wäre ein 365-Euro-Ticket für 960,00 statt 2167,80 Euro. Immerhin. Es wäre ein dauerhafter Tarif, gültig für alle, kein geplanter Rohrkrepierer a la Bonn. Es soll noch einen eTarif obendrauf geben. Zusätzlich. Nett, aber überflüssig, wenn das System so einfach wird.
Dieses Sofortprogramm wird nicht alles erfüllen, was wir Piraten uns wünschen. Bus und Bahn fahrscheinfrei zu gestalten, würde aber die Kompliziertheit und die Einstiegshürden nicht nur senken, sondern komplett entfernen. Fahrscheinfrei wird dafür sorgen, dass viele Menschen mobiler werden können – auch ohne Auto – und würde jedem in NRW die Wahlfreiheit schenken, das Auto nicht nehmen zu müssen. Ein massiver Ausbau des ÖPNV wäre dann unumgänglich. Doch das VRR-Sofortprogramm ist der beste Weg zur Verkehrswende in NRW, der seit Jahren zum Greifen nah – und bereits im VRR-Gremium politisch ausgehandelt – ist. Für die NRW-Politik wäre es fahrlässig, den Ball nicht aufzunehmen und zu spielen. Daher: Tut es! Nehmt den VRR beim Wort und setzt das Sofortprogramm sofort um.
Woran es scheitert und warum nicht
Fehlt noch was: Das Geld. Der VRR will das Programm mit mindestens 221 Millionen Euro pro Jahr vom Bund fördern lassen. Der Bund hat aber nur einmalig 300 Millionen Euro für 10 Modellprojekte angekündigt. Die Wahrscheinlichkeit, dass man dort zusammenkommt, ist nicht sehr hoch. Somit ist das ganze schöne „Sofortprogramm Saubere Luft“ nur eine Luftnummer aus dem Labor, um einerseits vielleicht ein paar Millionen für „Nichts halbes und nicht ganzes“ abzubekommen und andererseits die Schuld für das Ausbleiben der Verkehrswende auf den Bund zu schieben.
Klar, der Bund und seine Verkehrsminister der letzten Jahre haben Schuld. Aber das ist kein Grund, es dabei zu belassen. 221 Millionen Euro pro Jahr sind – selbst wenn die Zahl nicht frisiert wäre – angesichts der großen Aufgabe, vor der NRW steht, nicht viel. Eine vergleichsweise kleine Investition, die sich auch lohnen würde, wenn sie das Land NRW selbst aufbringen müsste. Tatsächlich sind für den notwendigen Umbau des Verkehrssystems mehrere Milliarden nötig, doch das Schwierigste dabei sind der Startschuss und das Mitziehen der Beteiligten. Wenn 221 Millionen Euro pro Jahr als Startschuss für eine Verkehrswende ausreichen, dann ist politischer Black Friday: Dann heißt es zugreifen und eintüten!
„Der VRR darf nicht Modellregion des Bundes für Bus und Bahn werden“, schrieb Stefan Laurin bei den Ruhrbaronen. Weil der VRR so verkrustet und überbürokratisiert wäre, dass das Geld irgendwo im Wasserkopf hängenbleiben würde. Es wäre Verschwendung, dieses kaputte System mit weiterem Geld zu unterstützen. Man mag Stefan Laurin zunächst Recht geben. Doch wenn der VRR wirklich darauf verpflichtet wäre, sein – womöglich gar nicht ganz so ernst gemeintes – Sofortprogramm 1:1 umzusetzen, dann würde sich die Struktur des VRR verändern, die von dem komplizierten Tarifsystem am Leben erhalten wird. Ich glaube jedenfalls nicht daran, dass sich verkrustete Strukturen von allein lösen. Genauso wie sich der ÖPNV nicht von allein ausbaut.
Der VRR hat seine kurze Ausführung zum Sofortprogramm genutzt, um darzustellen, dass auf einzelne Städte begrenzte Maßnahmen, wie das 365-Euro-Ticket und „kostenloser ÖPNV“, zu „Verwerfungen“ führen würden. Maßnahmen zur Förderung klimafreundlicher Mobilität müssten in einem Verkehrsraum „relevanter Größe“ erprobt werden. Da fällt mir auf: Der Rhein-Ruhr-Ballungsraum endet gar nicht an der VRR-Grenze. Wäre es nicht schön, wenn das „Sofortprogramm Saubere Luft“ mit genau dem vom VRR vorgeschlagenen zweistufigen Tarifsystem für ganz NRW gälte? So als Vorlauf zum fahrscheinfreien ÖPNV? Die Verkehrsverbünde NRWs könnte man dann anschließend recht einfach zu einem Verbund fusionieren. Das würde sehr viel Geld und Nerven sparen und damit eine Weiterentwicklung des ÖPNV und des Verkehrssystems in NRW ermöglichen. 20 Jahre hat NRW gebraucht, um eine App vorzustellen, in der man demnächst für ganz NRW ÖPNV-Tickets kaufen kann: 2500 verschiedene Tickets. Wie wäre es mit vieren? Gute Pläne und Gelegenheiten sollte man aufgreifen, solange sie leben!
Linkempfehlung: fahrscheinfrei.de
Inhalte
Der VRR möchte seine Tarife massiv vereinfachen. Endlich! Es könnte der Aufbruch zur Verkehrswende in NRW sein. Wenn es denn ernst gemeint wäre. Aber selbst, wenn der VRR es nicht ernst meint: Nehmt es doch bitte ernst! Macht es! Billiger ist der Einstieg in eine zeitgemäße Verkehrspolitik nicht zu bekommen.
Seit Anfang 2010 ist der fahrscheinfreie Bus- und Bahnverkehr in den Wahlprogrammen der NRW-Piraten verankert. Vor zehn Jahren wurde die Idee noch auf breiter Ebene belächelt, doch seitdem haben nicht nur Piraten daran gearbeitet, dass aus dieser Utopie Wirklichkeit wird.
Mit Luxemburg führt ab März 2020 ein ganzes europäisches Land den fahrscheinfreien Nahverkehr ein. Großstädte wie Tallinn (seit 2013 für Einwohner/innen) und Kansas City, das den „free public transport“ der Tram gerade auf alle Verkehrsmittel ausweitet, machen damit bereits länger gute Erfahrungen.
Fahrscheinfrei-Versuche in Deutschland
In Deutschland sind die Städte Pfaffenhofen (seit 2018) und Monheim am Rhein (ab April 2020 für Einwohner/innen) an Tübingen („TüBus umsonst“) vorbeigezogen, die die Idee schon länger hatten aber nie vollständig umsetzten. Inzwischen führen viele Kreise und Städte zumindest zaghafte Versuche durch: Ein Tag, eine Woche, die Adventswochenenden – fahrscheinfreie ÖPNV-Schnupper-Tage mit und ohne Einschränkungen für den PKW-Verkehr. Auch der VRR macht ein bisschen mit: Im Jahr 2020 dürfen alle an ihrem eigenen Geburtstag kostenlos Bus und Bahn fahren. Ein Lichtbildausweis mit Geburtstagsdatum gilt als Ticket.
Viele Kreis- und Stadträte, Verkehrsbetriebe und Bürgermeister/innen können sich dem Reiz und dem Marketing-Effekt des fahrscheinfreien Fahrens nicht entziehen. Trotzdem besagt die Leitlinie der Mainstream-Politik weiterhin, dass etwas, das nichts kostet, nicht wertgeschätzt werden könne und dass ein komplett fahrscheinfreier Nahverkehr unbezahlbar wäre. Außerdem wären nicht genügend Kapazitäten da, falls es wirklich mehr Fahrgäste gäbe. Erstmal müsse der ÖPNV ausgebaut werden. Vor allem auf dem Land.
Fazit
Es werden lieber weiterhin enorme Summen für die PKW-Infrastruktur ausgegeben, große Teile der Städte werden für Verkehrsflächen – kostenfrei und hoffentlich wertgeschätzt – reserviert. Der ÖPNV wird derweil nicht ausgebaut. Erst recht nicht auf dem Land. Dort fahren die Busse so selten, dass sie niemand nutzen will, also lohnt es nicht, sie häufiger fahren zu lassen.
Damit haben wir ein Problem. Denn NRW hat nicht nur einen besonders miesen ÖPNV – einen der schlechtesten, den man sich in einem so großen Ballungsraum vorstellen kann – sondern auch eine PKW-Infrastruktur, die trotz massiven Ausbaus im Berufsverkehr verstopft und nicht geeignet ist, die Menschen im Land glücklich zu machen.
Das Argument, dass wir nicht noch mehr Fahrgäste im ÖPNV-System gebrauchen können, weil wir die Kapazitäten nicht haben, ist also Banane. Matschige Banane. Wir müssen die Kapazitäten schaffen. Nicht irgendwann, wenn mal gerade Geld vom Straßenbau übrig ist, sondern jetzt und sofort. Mit einer ordentlichen Portion Druck. Nur damit können wir im Berufsverkehr die Verkehrsinfrastruktur soweit entlasten, dass NRW morgens wieder glücklicher wird. Die größte Herausforderung in NRW ist die Stadt Köln: Dort wird der Ausbau schwierig. Im Bereich des VRR jedoch ist mit einigen Jahren Anstrengung viel machbar.
Wenn wir uns einig sind, dass wir in NRW eigentlich doch mehr Fahrgäste für Bus und Bahn haben wollen, stellen wir uns die Frage, wie wir sie, vor allem die Berufspendler/innen, zum Umsteigen bewegen können. Bus und Bahn müssen attraktiver und bequemer werden: öfter fahren, direkter fahren, schneller etc. – d.h. der ÖPNV muss ausgebaut werden, was sowieso passieren muss, wenn mehr Fahrgäste kommen.
Der Tarifdschungel
Doch es gibt noch eine weitere Hürde, die vor allem verhindert, dass Pendler/innen Bus und Bahn überhaupt ausprobieren und zu Gelegenheitsfahrer/innen werden: Das Tarifsystem. Die ÖPNV-Tarifsysteme sind die größten Verhinderer einer NRW-Verkehrswende!
Der Preis spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Die Tarifsysteme sind vor allem zu kompliziert. Es gibt Menschen, die Angst haben, aus Versehen schwarz zu fahren – und das zu Recht. Vor der Fahrt zwischen Tarifzonen oder gar Tarifgebieten sollte man sich schon einige Zeit mit dem System beschäftigen. Ein abgeschlossenes Studium hilft dabei, aber nicht immer.
Und jedes Mal, wenn es Politiker/innen oder Verkehrsbetriebe augenscheinlich gut meinen und einen besonders attraktiven Tarif hinzufügen (Bärenticket, 9-Uhr-Ticket, eTarif, Sonderticket X, Y, Z), wird der ÖPNV nicht attraktiver, sondern nur noch komplizierter. Das ist Abschreckung! Kleinstaaterei, die verhindert, dass Menschen in NRW mit Bus und Bahn zur Arbeit fahren. In keiner europäischen Metropole fahren weniger Menschen mit dem ÖPNV, als in der größten Agglomeration Europas, dem Ruhrgebiet: VRR-Gebiet.
Das Wiener Modell
Das Tarifsystem muss also einfacher werden. Wien hat das 365-Euro-Ticket und viele Politiker/innen würden das gerne kopieren, ohne die Stadtkasse zu belasten. Manchmal – wie in Bonn das „Klimaticket“ – als _zusätzliches_ Ticket zum bestehenden Tarifsystem: mit möglichst komplizierten Regeln, wer es haben darf und wer nicht und mit beschränktem Geltungsraum. Anschließend wundern sich alle, dass es nicht funktioniert. Und das habe ich mir nicht ausgedacht. Das ist wirklich so passiert.
Begleitende Studien zeigen, dass das Wiener Modell nicht deshalb so erfolgreich ist, weil es billig ist, sondern, weil es einfach ist! Nebenbei spielt natürlich eine Rolle, dass der ÖPNV auch gut ausgebaut wurde. Besonders deutlich wurde das bei einer Studie in Innsbruck / Vorarlberg, wo ein landesweites 370-Euro-Ticket (ehemals 360-Euro-Ticket) existiert: Für die Mehrzahl der Nutzer/innen wurde das Fahren mit Bus und Bahn teurer – das Flatrate-Ticket lohnt sich für Gelegenheitsfahrten gar nicht. Doch es war so einfach, dass es dennoch gekauft wurde. Ein VRR-Abo mit dem gleichen Leistungsumfang kostet statt 365 Euro 2167,80 Euro – und dann spielt der Preis doch eine Rolle. 2167,80 Euro im Abo pro Jahr, gibt man nicht mal eben aus, wenn man den ÖPNV nur gelegentlich nutzen will.
In NRW so
Man kann übrigens statt 2167,80 Euro auch 2442,60 Euro für einmal VRR-Flat im Jahr ausgeben (ohne Abo). Oder nur 2004,84 Euro (Ticket 1000). Oder man nimmt zwölf 30-Tages-Tickets (nur Online) oder man ist berechtigt für das YoungTicket, das Bärenticket etc. Die VRR-Website hat 31 (!) Kästchen für verschiedene Tarife (ohne Sondertarife für einzelne Kommunen). Jedes Kästchen führt zu einer Tabelle mit oft 24 weiteren Tarifoptionen, weil es jeweils 6 Preisstufen gibt und bei den Zeitkarten jeweils Abo- und 9-Uhr-Varianten. Hat man einen der 31 Fahrkartentypen gewählt und sich für eine der 24 Detailoptionen entschieden, braucht man nur noch den Geltungsbereich aus den 75 Tarifzonen des Verbundraums zusammenbasteln und Bäääm, hat man sein Ticket. Der VRR hat eine Broschüre „Tickets und Preise“ für Gelegenheitsfahrer/innen. Die Broschüre hat 36 Seiten. Demnächst gibt es zur Vereinfachung noch einen eTarif: zusätzlich obendrauf.
Der gemeine NRWler hat sich ja daran gewöhnt – und nimmt das Auto. Was soll man machen? Bei so vielen Gremien, Räten und Entscheider/innen wird sich da nicht so schnell was ändern. Wir können nur hoffen, dass irgendwann die Ticketpreise an den Benzinpreis gekoppelt werden und sie nicht mehr so schnell steigen. Resignation.
Das Rhein-Ruhr-Modell
Und dann… Dann legt der VRR am Mittwoch plötzlich ein „Sofortprogramm Saubere Luft“ vor. Statt rund 500 Tarifen nur noch VIER! Total einfach. Und bezahlbar. Zwei Preisstufen. Einzelticket innerhalb einer Stadt oder eines Kreises: 2 Euro. Für den gesamten VRR-Raum: 4 Euro. Monatsticket 50 Euro für die Stadt oder 80 Euro verbundweit. Das wäre ein 365-Euro-Ticket für 960,00 statt 2167,80 Euro. Immerhin. Es wäre ein dauerhafter Tarif, gültig für alle, kein geplanter Rohrkrepierer a la Bonn. Es soll noch einen eTarif obendrauf geben. Zusätzlich. Nett, aber überflüssig, wenn das System so einfach wird.
Dieses Sofortprogramm wird nicht alles erfüllen, was wir Piraten uns wünschen. Bus und Bahn fahrscheinfrei zu gestalten, würde aber die Kompliziertheit und die Einstiegshürden nicht nur senken, sondern komplett entfernen. Fahrscheinfrei wird dafür sorgen, dass viele Menschen mobiler werden können – auch ohne Auto – und würde jedem in NRW die Wahlfreiheit schenken, das Auto nicht nehmen zu müssen. Ein massiver Ausbau des ÖPNV wäre dann unumgänglich. Doch das VRR-Sofortprogramm ist der beste Weg zur Verkehrswende in NRW, der seit Jahren zum Greifen nah – und bereits im VRR-Gremium politisch ausgehandelt – ist. Für die NRW-Politik wäre es fahrlässig, den Ball nicht aufzunehmen und zu spielen. Daher: Tut es! Nehmt den VRR beim Wort und setzt das Sofortprogramm sofort um.
Woran es scheitert und warum nicht
Fehlt noch was: Das Geld. Der VRR will das Programm mit mindestens 221 Millionen Euro pro Jahr vom Bund fördern lassen. Der Bund hat aber nur einmalig 300 Millionen Euro für 10 Modellprojekte angekündigt. Die Wahrscheinlichkeit, dass man dort zusammenkommt, ist nicht sehr hoch. Somit ist das ganze schöne „Sofortprogramm Saubere Luft“ nur eine Luftnummer aus dem Labor, um einerseits vielleicht ein paar Millionen für „Nichts halbes und nicht ganzes“ abzubekommen und andererseits die Schuld für das Ausbleiben der Verkehrswende auf den Bund zu schieben.
Klar, der Bund und seine Verkehrsminister der letzten Jahre haben Schuld. Aber das ist kein Grund, es dabei zu belassen. 221 Millionen Euro pro Jahr sind – selbst wenn die Zahl nicht frisiert wäre – angesichts der großen Aufgabe, vor der NRW steht, nicht viel. Eine vergleichsweise kleine Investition, die sich auch lohnen würde, wenn sie das Land NRW selbst aufbringen müsste. Tatsächlich sind für den notwendigen Umbau des Verkehrssystems mehrere Milliarden nötig, doch das Schwierigste dabei sind der Startschuss und das Mitziehen der Beteiligten. Wenn 221 Millionen Euro pro Jahr als Startschuss für eine Verkehrswende ausreichen, dann ist politischer Black Friday: Dann heißt es zugreifen und eintüten!
„Der VRR darf nicht Modellregion des Bundes für Bus und Bahn werden“, schrieb Stefan Laurin bei den Ruhrbaronen. Weil der VRR so verkrustet und überbürokratisiert wäre, dass das Geld irgendwo im Wasserkopf hängenbleiben würde. Es wäre Verschwendung, dieses kaputte System mit weiterem Geld zu unterstützen. Man mag Stefan Laurin zunächst Recht geben. Doch wenn der VRR wirklich darauf verpflichtet wäre, sein – womöglich gar nicht ganz so ernst gemeintes – Sofortprogramm 1:1 umzusetzen, dann würde sich die Struktur des VRR verändern, die von dem komplizierten Tarifsystem am Leben erhalten wird. Ich glaube jedenfalls nicht daran, dass sich verkrustete Strukturen von allein lösen. Genauso wie sich der ÖPNV nicht von allein ausbaut.
Der VRR hat seine kurze Ausführung zum Sofortprogramm genutzt, um darzustellen, dass auf einzelne Städte begrenzte Maßnahmen, wie das 365-Euro-Ticket und „kostenloser ÖPNV“, zu „Verwerfungen“ führen würden. Maßnahmen zur Förderung klimafreundlicher Mobilität müssten in einem Verkehrsraum „relevanter Größe“ erprobt werden. Da fällt mir auf: Der Rhein-Ruhr-Ballungsraum endet gar nicht an der VRR-Grenze. Wäre es nicht schön, wenn das „Sofortprogramm Saubere Luft“ mit genau dem vom VRR vorgeschlagenen zweistufigen Tarifsystem für ganz NRW gälte? So als Vorlauf zum fahrscheinfreien ÖPNV? Die Verkehrsverbünde NRWs könnte man dann anschließend recht einfach zu einem Verbund fusionieren. Das würde sehr viel Geld und Nerven sparen und damit eine Weiterentwicklung des ÖPNV und des Verkehrssystems in NRW ermöglichen. 20 Jahre hat NRW gebraucht, um eine App vorzustellen, in der man demnächst für ganz NRW ÖPNV-Tickets kaufen kann: 2500 verschiedene Tickets. Wie wäre es mit vieren? Gute Pläne und Gelegenheiten sollte man aufgreifen, solange sie leben!
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