Als in den 90ern das Ticket für 5 Leute zusammen 15 DM kostete und man damit an einem Wochenende quer durch Deutschland fahren konnte, gab es für viele aus der „Generation X“ nur ein Problem: Nach dem Samstagstrip sonntags noch fit genug für den Trip nach Sylt zu sein. Einmal wollten wir mit dem 15 DM-Wochenendticket von Bielefeld nach Berlin fahren und schon in Avenwedde ließ uns der IR stehen. Später erhielten wir dann die Freigabe für einen IC bis Berlin und brauchten statt acht Stunden nur sechs bis zum Ziel. Ganze 12-Stunden dauerte die Fahrt in vollen und verspäteten Nahverkehrszügen von Bielefeld nach München. Am Ende verpassten wir den letzten Zug mitten in der bayrischen Provinz und mussten die letzten Kilometer trampen.
Sind das Geschichten, die sich mit dem 9-Euro-Ticket wiederholen sollten? Ja, unbedingt. Das 15 DM-Wochenendticket war ein Aufbruch für das Konzept „Bahn fahren“. Ohne diese Aktion hätten viele Leute der „Generation Golf“ wahrscheinlich nie mit dem Bahnfahren angefangen. So haben manche von ihnen nie mehr damit aufgehört. Sie haben Bus und Bahn nicht abgestempelt.
Es ist sehr wichtig für die Verkehrswende, dass Menschen, die die Gelegenheit des 9-Euro-Tickets nutzen und Erfahrungen sammeln, sich vielleicht in Bus und Bahn verlieben oder zumindest in den Sommer 2022; oder sich überhaupt einmal einen „Road“-Trip leisten können. Genauso wichtig ist es, dass die Politik und die Verkehrsbetriebe Erfahrungen sammeln und mit alten Mythen aufräumen können.
Ein Mythos ist, dass man die Nachfrage des ÖPNVs keinesfalls ankurbeln darf, bevor Bus und Bahn nicht kräftig ausgebaut wurden. Spoiler: Ohne die entsprechende Nachfrage wird allenfalls „bedarfsgerecht“ ausgebaut, also in manchen Regionen niemals.
Seit 13 Jahren werbe ich in der Politik für Bus und Bahn fahrscheinfrei und ich verfluche die Bürokratie hinter dem 9-Euro-Ticket. Natürlich hätte man zum gleichen Preis auch komplett auf Tickets und die dadurch erzeugte Bürokratie verzichten können. Und klar wäre es mit dem Ausbau des ÖPNV und der Verkehrswende ganz einfach, wenn man es nur wollte und dafür Geld in die Hand nähme. Aber man kann nicht, weil „das ist leider realitätsfern, weil es politisch nicht umsetzbar ist“ – ein häufiges Argument im NRW-Landtag.
Das 9-Euro-Ticket aber ist akut politisch umsetzbar, da heißt es zugreifen, auch wenn es ein Mängelexemplar ist, denn eine zweite Chance kommt nicht so schnell. So ein Experiment liegenzulassen wäre traurig.
Für mich ist das 9-Euro-Ticket superspannend. Ein Ergebnis aus drei Jahren Enquetekommission zur ÖPNV-Finanzierung war: Es gibt ein Henne-Ei-Problem. Was kommt zuerst? Die massive Nachfrage oder der massive Ausbau und die Attraktivierung des ÖPNV? Bisher hieß es: Keines von beiden, weil das eine auf das andere wartet und weder eine preislich gesteuerte Nachfrageerhöhung, noch ein Ausbau des ÖPNV „politisch umsetzbar“ ist.
Wenn das 9-Euro-Ticket jetzt wirklich scheitern sollte, dann am politischen Pokerspiel. Die Medien verkünden das Mantra der Länder, das 9-Euro-Ticket sei vom Bund als Geschenk versprochen, müsse aber von den Ländern bezahlt werden. Ich bezweifle allerdings, dass die Länder draufzahlen.
Das Fahrpersonal darf einem bei dem Planungschaos leid tun, aber werden die Länder wirklich mehr belastet?
Ein paar Dinge zum Anschauen:
- Es gibt vom Bund an die Länder 3,7 Mrd. Euro für die „Einnahmeausfälle“, darin sind 1,2 Mrd. enthalten, die bereits zur Kompensation der coronabedingten „Einnahmeausfälle“ gedacht waren.
Die deutschlandweiten ÖPNV-Einnahmen betrugen 2020 10,3 Mrd. Euro und im Jahr 2019 13,3 Mrd. Euro.
10,3 Mrd./4 = 2.575 Mrd.
13,3 Mrd./4 = 3,325 Mrd.
Das heißt sowohl auf Basis der Corona-Jahr-Zahlen im Vergleich mit 2,5 Mrd. Euro Bundeszuschuss als auch auf Basis der Vor-Corona-Zeiten (2019) mit 3,7 Mrd. Euro ist der Bundeszuschuss geeignet, einen Totalausfall der Einnahmen über drei Monate auszugleichen. - Was für Kosten „on Top“ kämen, lässt sich schwer sagen. Es ist kaum davon auszugehen, dass es – von Einzelfällen abgesehen – massive Kapazitätserhöhungen geben wird. Die Kosten für zusätzliche Leitungen lassen sich dabei kaum kalkulieren, denn der ÖPNV wird in Gemeinden teuer gerechnet, um Ausgleichzahlungen (im Zweckverband, zur Beförderung Schwerbehinderter, für den Ausbildungsverkehr, für Sozialtickets) zu erhalten. Der ÖPNV ist nicht so teuer, wie er in den Büchern steht.
- Natürlich dürfen die Länder ihre Zustimmung politisch an die fällige Erhöhung der Regionalisierungsmittel knüpfen, aber die Regionalisierungsmittel sind etwas, was dauerhaft gezahlt wird und nicht für drei Monate.
Die Länder versuchen hier etwas herauszuhandeln. Das hat aber nicht direkt etwas mit dem 9-Euro-Ticket zu tun. - Außerdem sind die Regionalisierungsmittel nur für den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) einsetzbar. Der Busverkehr, bei dem am ehesten Mehrkosten durch das 9-Euro-Ticket entstehen würden, kann gar nicht mit Regionalisierungsmitteln finanziert werden.
- Früher gab es für den ÖPNV – auch für den Busbetrieb – zweckgebundene Entflechtungsmittel vom Bund. Später wurde die Zweckbindung aufgehoben und nun gibt es für die Länder stattdessen Mittel aus dem Umsatzsteueraufkommen als Nachfolge der Entflechtungsmittel. Nicht alle Bundesländer haben hier mit einem eigenen Zweckbindungsgesetz die Gelder des Bundes an die Finanzierung des ÖPNVs gebunden.
Für die Glaubwürdigkeit der Länder wäre es das Mindeste, auch intern sicherzustellen, das zugewiesene Gelder ebenfalls für den ÖPNV und dessen Ausbau verwendet werden.
Lasst Euch also vom Wehklagen der Länder nicht irritieren. Wenn für euch das 9-Euro-Ticket in die richtige Richtung geht – und sei es nur, um schlechte Argumente gegen die Verkehrswende und gegen Bus und Bahn fahrscheinfrei aufzuweichen – dann drückt die Daumen , dass der Aktion trotz der chaotischen Umsetzung keine Steine mehr in den Weg gelegt werden.
Oliver Bayer saß von 2012 bis 2017 für die Piratenpartei NRW im Landtag. Dort leitete er die von ihm initiierte Enquetekommission „Finanzierung, Innovation und Nutzung des Öffentlichen Personenverkehrs“. Die Ergebnisse, auch die der Berliner Kolleg:innen im Abgeordnetenhaus, finden sich auf http://www.fahrscheinfrei.de/
Als in den 90ern das Ticket für 5 Leute zusammen 15 DM kostete und man damit an einem Wochenende quer durch Deutschland fahren konnte, gab es für viele aus der „Generation X“ nur ein Problem: Nach dem Samstagstrip sonntags noch fit genug für den Trip nach Sylt zu sein. Einmal wollten wir mit dem 15 DM-Wochenendticket von Bielefeld nach Berlin fahren und schon in Avenwedde ließ uns der IR stehen. Später erhielten wir dann die Freigabe für einen IC bis Berlin und brauchten statt acht Stunden nur sechs bis zum Ziel. Ganze 12-Stunden dauerte die Fahrt in vollen und verspäteten Nahverkehrszügen von Bielefeld nach München. Am Ende verpassten wir den letzten Zug mitten in der bayrischen Provinz und mussten die letzten Kilometer trampen.
Sind das Geschichten, die sich mit dem 9-Euro-Ticket wiederholen sollten? Ja, unbedingt. Das 15 DM-Wochenendticket war ein Aufbruch für das Konzept „Bahn fahren“. Ohne diese Aktion hätten viele Leute der „Generation Golf“ wahrscheinlich nie mit dem Bahnfahren angefangen. So haben manche von ihnen nie mehr damit aufgehört. Sie haben Bus und Bahn nicht abgestempelt.
Es ist sehr wichtig für die Verkehrswende, dass Menschen, die die Gelegenheit des 9-Euro-Tickets nutzen und Erfahrungen sammeln, sich vielleicht in Bus und Bahn verlieben oder zumindest in den Sommer 2022; oder sich überhaupt einmal einen „Road“-Trip leisten können. Genauso wichtig ist es, dass die Politik und die Verkehrsbetriebe Erfahrungen sammeln und mit alten Mythen aufräumen können.
Ein Mythos ist, dass man die Nachfrage des ÖPNVs keinesfalls ankurbeln darf, bevor Bus und Bahn nicht kräftig ausgebaut wurden. Spoiler: Ohne die entsprechende Nachfrage wird allenfalls „bedarfsgerecht“ ausgebaut, also in manchen Regionen niemals.
Seit 13 Jahren werbe ich in der Politik für Bus und Bahn fahrscheinfrei und ich verfluche die Bürokratie hinter dem 9-Euro-Ticket. Natürlich hätte man zum gleichen Preis auch komplett auf Tickets und die dadurch erzeugte Bürokratie verzichten können. Und klar wäre es mit dem Ausbau des ÖPNV und der Verkehrswende ganz einfach, wenn man es nur wollte und dafür Geld in die Hand nähme. Aber man kann nicht, weil „das ist leider realitätsfern, weil es politisch nicht umsetzbar ist“ – ein häufiges Argument im NRW-Landtag.
Das 9-Euro-Ticket aber ist akut politisch umsetzbar, da heißt es zugreifen, auch wenn es ein Mängelexemplar ist, denn eine zweite Chance kommt nicht so schnell. So ein Experiment liegenzulassen wäre traurig.
Für mich ist das 9-Euro-Ticket superspannend. Ein Ergebnis aus drei Jahren Enquetekommission zur ÖPNV-Finanzierung war: Es gibt ein Henne-Ei-Problem. Was kommt zuerst? Die massive Nachfrage oder der massive Ausbau und die Attraktivierung des ÖPNV? Bisher hieß es: Keines von beiden, weil das eine auf das andere wartet und weder eine preislich gesteuerte Nachfrageerhöhung, noch ein Ausbau des ÖPNV „politisch umsetzbar“ ist.
Wenn das 9-Euro-Ticket jetzt wirklich scheitern sollte, dann am politischen Pokerspiel. Die Medien verkünden das Mantra der Länder, das 9-Euro-Ticket sei vom Bund als Geschenk versprochen, müsse aber von den Ländern bezahlt werden. Ich bezweifle allerdings, dass die Länder draufzahlen.
Das Fahrpersonal darf einem bei dem Planungschaos leid tun, aber werden die Länder wirklich mehr belastet?
Ein paar Dinge zum Anschauen:
Die deutschlandweiten ÖPNV-Einnahmen betrugen 2020 10,3 Mrd. Euro und im Jahr 2019 13,3 Mrd. Euro.
10,3 Mrd./4 = 2.575 Mrd.
13,3 Mrd./4 = 3,325 Mrd.
Das heißt sowohl auf Basis der Corona-Jahr-Zahlen im Vergleich mit 2,5 Mrd. Euro Bundeszuschuss als auch auf Basis der Vor-Corona-Zeiten (2019) mit 3,7 Mrd. Euro ist der Bundeszuschuss geeignet, einen Totalausfall der Einnahmen über drei Monate auszugleichen.
Die Länder versuchen hier etwas herauszuhandeln. Das hat aber nicht direkt etwas mit dem 9-Euro-Ticket zu tun.
Für die Glaubwürdigkeit der Länder wäre es das Mindeste, auch intern sicherzustellen, das zugewiesene Gelder ebenfalls für den ÖPNV und dessen Ausbau verwendet werden.
Lasst Euch also vom Wehklagen der Länder nicht irritieren. Wenn für euch das 9-Euro-Ticket in die richtige Richtung geht – und sei es nur, um schlechte Argumente gegen die Verkehrswende und gegen Bus und Bahn fahrscheinfrei aufzuweichen – dann drückt die Daumen , dass der Aktion trotz der chaotischen Umsetzung keine Steine mehr in den Weg gelegt werden.
Oliver Bayer saß von 2012 bis 2017 für die Piratenpartei NRW im Landtag. Dort leitete er die von ihm initiierte Enquetekommission „Finanzierung, Innovation und Nutzung des Öffentlichen Personenverkehrs“. Die Ergebnisse, auch die der Berliner Kolleg:innen im Abgeordnetenhaus, finden sich auf http://www.fahrscheinfrei.de/