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Gastbeitrag von Alessa Flohe, Spitzenkandidatin der Piratenpartei NRW

Alessa Flohe: Die ist aber ein geschicktes Ding

Frau Extremsport

Alessa Flohe ist 26 Jahre alt, behördliche Datenschutzbeauftragte, Stadtverordnete im Rat der Stadt Kerpen, sachkundige Bürgerin im Rhein-Erft-Kreis und studiert aktuell Wirtschaftsrecht. Für die Piratenpartei NRW ist sie Spitzenkandidatin zur Landtagswahl 2022

Kerpen hat vier Bürgermeister. Alle männlich. Von 13 Ausschüssen sind nur 4 unter weiblichem Vorsitz. Auch unter den 7 Ortsvorstehern sind nur 2 Frauen zu finden. Mit dem Bürgermeister sitzen insgesamt 47 Stadtverordnete im Kerpener Stadtrat. 14, also 29,79%, davon sind weiblich. Und eine davon bin ich.

Als ich mich 2020 entschloss, auf Listenplatz 1 zu kandidieren, fiel der Kommentar „das ist aber ein geschicktes Ding!“. Mit Ding war natürlich ich gemeint. Von einigen wurde mir nicht zugetraut, dass wirklich ich kandidiere, und dass ich nicht die Handpuppe eines Mannes werden sollte, nur weil sich eine Spitzenkandidatin für die Presse besser macht. Nun mag man sagen, der Wahlkampf sei ein schmutziges Spiel und der Spruch in dem Kontext nicht abwertend. Dem muss ich widersprechen: es war nicht der erste Vorfall.

Den Vorwurf einer Quotenfrau habe ich so oft gehört, dass ich mich entschloss, meinen Blog so zu nennen. „Du bist nur in der Position, weil du eine Frau bist.“, auch dieser Satz fiel oft, nicht nur im Bezug auf den Stadtrat, sondern auch auf Parteifunktionen.
Nicht nur der Kerpener Stadtrat ist von Parität so weit entfernt wie Florian Silbereisen von Hardcore-Metal. Im neuen Bundestag sind gerade einmal 35% der Abgeordneten weiblich, im Landtag NRW nur 27,1%. Nach den Kommunalwahlen 2020 stieg immerhin der Frauenanteil in den Kommunalparlamenten leicht auf 34,4%. Meine Heimatstadt liegt unterhalb dieses Wertes.

Frauen sind in der Politik unterrepräsentiert

Es ist offensichtlich: Frauen sind in der (Kommunal-)Politik unterrepräsentiert. Aber wieso? Diese Frage kann ich nicht abschließend beantworten. Sie ist jedoch Gegenstand einiger Studien. Die ermittelten Ursachen und meine eigenen Erfahrungen möchte ich als Denkanstoß für uns alle anreißen.

Um als Frau ernst genommen zu werden, müsse man beispielsweise häufig überdurchschnittlich mehr leisten als Männer. Nicht nur in der Politik, sondern auch im Beruf. Man muss sich im Vorfeld stärker beweisen und auch in (politischen oder beruflichen) Diskussionen muss man, selbst als Expertin, deutlich mehr Argumentationsleistung bringen. Dies bestätigten auch 43% der befragten Kommunalpolitikerinnen der im Bundestag vertretenen Parteien einer Studie des Bundesfrauenministeriums. Männer seien häufig „qua Geschlecht“ mit einem Vertrauensvorschuss versehen, äußerte eine der befragten Politikerinnen.

Hierbei geht es oftmals nicht um die wirkliche Frage nach Kompetenz. Es geht nicht darum „sich nicht von jedem alles unhinterfragt erzählen zu lassen“. Es sind die Beobachtungen, die mir und anderen weiblichen (Kommunal-)Politikerinnen Recht geben oder zumindest diesen Eindruck verstärken.

Das gute, alte Stereotyp

Auch Stereotype können eine Rolle spielen. Denn sie bestimmen den Umgang untereinander und das vorherrschende Klima. Nach klassischen Rollenklischees seien Frauen einfühlsam(er), kompromissbereit(er), weich(er). Dies verstärkt automatisch diese Erwartungshaltung an uns. Frauen, die sich diesem Bild nicht fügen, haben es schwerer. Sie werden häufig als herrisch, gar „zickig“ wahrgenommen. Weisen wir mit Nachdruck auf Gefahren oder Konsequenzen hin, als „hysterisch“.

Während bei einer Diskussion zum Klimanotstand kein männlicher Redebeitrag mit der Zuweisung von Attributen versehen wurde (was nicht heißt, das er kritiklos blieb!), wurde mir unterstellt, ich sei „hysterisch“ und „emotional“. Natürlich mag man inhaltliche Kritik üben dürfen und natürlich waren meine Aussagen anklagend. Ich bin da auch nicht dünnhäutig, warte aber bis heute darauf, dass einer meiner männlichen Kollegen für einen ähnlich anklagenden Redebeitrag ebenfalls gleichermaßen reflexartig als „emotional“ und „hysterisch“ beschrieben wird.

Zu diesem Schluss kommt auch die eben zitierte Studie. Hier wird häufig Andrea Nahles beispielhaft hinzugezogen, die sich dem klassischen Bild nicht fügte, allerdings auch nicht mehr Ausreißer hatte als männliche Kollegen, aber umso härter kritisiert und abgelehnt wurde. Sexistische Beleidigungen inklusive.

Dieses Phänomen sehen wir auch in anderen Lebensbereichen, beispielsweise im Job, aber auch in der Kindererziehung. Forciert ein Vater seine Karriere trotz Kind, so beachtet man dies entweder gar nicht oder lobt ihn dafür. Frauen werden kritischer beäugt, sind schlechte Mütter, müssen sich rechtfertigen dafür, wo denn ihr Kind sei, wenn nicht bei ihnen. Vertritt ein Mann im Beruf seine Interessen oder Positionen, so ist er energisch. Durchsetzungsstark. Ein echter „Boss“ eben. Tritt eine Frau auf diese Art und Weise auf, gilt sie als „schwierig“.

Weiterhin gibt es immer noch zu wenig weibliche Vorbilder, vor allem auf kommunaler Ebene. Ich habe Frauen kennengelernt, die aufgrund der bereits beschriebenen, aber auch weitergehender Problematiken lieber in der „zweiten Reihe“ bleiben. So sind bereits die Einstiegsvoraussetzungen aufgrund des persönlichen Klimas erschwert.

Und sonst?

Doch was hat das damit zu tun, dass Frauen unterrepräsentiert sind? Das politische Klima, vor allem in Diskussionen scheint eines zu sein, welches Frauen abschreckt. Dies gaben immerhin 66% der Befragten an. Jedoch sind oben beschriebene Hürden unsichtbare Hürden, die für viele nicht direkt greifbar sind, vermeintlich sogar direkt widerlegbar und ich bin mir sicher, dass an der Stelle vehementer Widerstand erklingen wird.

Widmen wir uns also zum Abschluss den sichtbaren, nicht wegdiskutierbaren Hürden: politische Gremienarbeit erfordert vor allem eines – Zeit und eine ständige Verfügbarkeit. Sitzungen finden in den Abendstunden statt, wo Frauen häufig mit der Kinderbetreuung beschäftigt sind.

Durch Kinder, Haushalt und andere Care-Arbeit, die überproportional oft auf Frauen entfällt, sind sie zeitlich weniger flexibel für politisches Engagement. So verrichten in 89% der Haushalte weltweit Frauen und Mädchen den Großteil der Hausarbeit, sind für die Kinderbetreuung zuständig. Und je nach soziokulturellem Background kommen weitere Probleme hinzu. So ist Politik auf kommunaler Ebene häufig nicht niederschwellig genug, Prozesse in Verwaltungen oftmals kompliziert. Ich kenne viele weibliche Mitstreiterinnen, die ihr Engagement schweren Herzens wieder niederlegen mussten, weil ein Job alleine zum Auskommen nicht mehr reichte. Armut, kultureller Background, all dies sind Hürden, die den Weg zusätzlich erschweren.

Die Lösung?

Zuallererst müssen wir als Gesellschaft diese Probleme ernst nehmen. Ich habe in der letzten Zeit mit vielen Frauen gesprochen, die mir alle bestätigten: „Wäre ich ein Mann, wäre ich karrieretechnisch in der Politik schon viel weiter“. Viele konnten, obwohl sie sich gerne engagieren wollten, beispielsweise aufgrund der Kinder oder Verpflichtungen in der Schule und KiTa, nicht als sachkundige Bürgerinnen tätig werden. Gerade Probleme, die durch Rollenklischees auftreten, werden aber in Diskussionen oft als „gefühlte Wahrheiten“ negiert. Obwohl sie durch Studien belegbar sind und durch Erfahrungen bloß für einen selbst bestätigt werden. Zeitgleich berichten mir viele männliche Kollegen, dass sie sich mehr Frauen auf ihren Listen wünschen würden. Es liegt also nicht immer nur per se daran, dass Frauen nicht gewollt sind.

Nehmen wir diese Probleme ernst, können wir an Mechanismen arbeiten, uns aufeinander zubewegen, um dieses Defizit auszugleichen. So kann ein jeder von uns reflektieren: unterbreche ich wirklich oft Redebeiträge? Und an dieser Verhaltensweise arbeiten. Wir können aktiv daran arbeiten, wie wir Frauen wahrnehmen und ob wir sie und ihre Aussagen und Positionierungen sachlich oder persönlich und emotional beurteilen. Und zu guter Letzt: Sei kein Sexist und behalt deine Hände bei dir.

Aber auch Kinderbetreuungen in den Rathäusern oder auf Parteiveranstaltungen könnten eine Möglichkeit sein. Hier hapert es jedoch fairerweise oft an der Finanzierung: eine Möglichkeit für die Landes- oder Bundespolitik, Ausgleiche zu schaffen.

Der berühmt berüchtigte Gender Pay Gap ist ebenfalls ein Problem. Noch immer verdienen Frauen in Deutschland 2021 rund 18% weniger Geld. Würden Frauen dieselben beruflichen und finanziellen Möglichkeiten haben, so würden sie nicht nur seltener in der Altersarmut landen, dann würden sich gegebenenfalls auch häufiger Männer entschließen, Elternzeit zu nehmen oder eben kürzerzutreten, sodass die zeitliche Flexibilität gegeben wäre.

Ob Quoten am Ende die Lösung sind, ist fraglich. Denn die beste Quote führt zu keinem Erfolg, solange es nicht genügend weibliche Bewerberinnen gibt. Wir sollten alles Menschenmögliche daran setzen, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich alle Geschlechter wohl und bereit fühlen, um den Weg ins politische Engagement zu wagen.

Denn solange Politik als Männerdomäne wahrgenommen wird und das wird sie eben auch aufgrund des Umgangs miteinander, solange werden sich wenige Frauen finden, die bereit sind, diesen Weg zu beschreiten.

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